Raphael Gielgen

Vitra 
Raphael Gielgen

Kennen Sie denjenigen aus Ihrem Unternehmen, den einige für verrückt
halten? Raphael Gielgen ist einer von diesen Kollegen. Seine unbändige Neugier, die rastlose Suche nach Erklärung und die Lust, alles auf den Kopf zu stellen, machen ihn zuweilen unbequem – und wenn er nach einer langen Reise wieder einmal im Büro erscheint, erzählt er von Dingen, die mehr nach virtueller Utopie, als nach gelebter Wirklichkeit klingen. Er besucht mehr als 100 Unternehmen, Universitäten und Startups im Jahr. die Welt ist sein
Arbeitsplatz, die Zukunft sein Forschungsgebiet. Seine Aufgabe ist es durch die Welt zu reisen und die Protagonisten einer neuen Zeit zu treffen. Die Erkenntnisse und Erfahrungen dokumentiert er auf einem „Panorama“. Dies ist eine Landkarte der Trends und Muster einer neuen Welt.

Wenn jemand von Natur aus neugierig, vielseitig interessiert, offen für Neues, kommunikativ und reisefreudig ist, dann sind das gute Voraussetzungen, um beispielsweise Reiseleiter, Journalist oder Privatdetektiv zu werden. Oder man macht es wie Raphael Gielgen und wird Trendscout. Und wenn man eine international erfolgreiche Marke wie Vitra ist, die sich ständig weiterentwickelt und dabei am besten Lösungen parat hat, bevor die Kunden noch das Problem kennen, dann ist man gut beraten, einen Trendscout um den Globus zu schicken – mit der Nase im Wind und dem Finger am Puls der Menschen und Unternehmen. Insofern traf es sich gut, dass die Wege von Raphael Gielgen und Vitra sich kreuzten.

 

Wobei man natürlich weder als Trendscout geboren wird, noch eine einschlägige Ausbildung dafür machen kann. Im Fall von Raphael geht dem eine Schreinerausbildung, danach eine kaufmännische Lehre und schließlich eine Karriere in unterschiedlichen Funktionen in Unternehmen voraus – vom Business Developer über die Geschäftsführung bis zur Konsulententätigkeit. Bei Vitra sollte er eigentlich sein Verkaufstalent fürs Unternehmen einsetzen. Aber da ein Vertrag ihn zu einem einjährigen Wettbewerbsverbot zwang, nützte er die Zeit, um ganz andere Dinge zu tun. Dabei kam er auf den Geschmack und wusste: Wenn für Vitra, dann als ein freies Radikal, das dem Unternehmen das Hirn durchlüftet, das Neue hineinkippt, unbequem ist, fordernd und gleichzeitig im Kern darum bemüht, möglichst jenen Input zu liefern, aus dem die künftige Vitra-Welt gemacht sein wird.

„TECHNOLOGIE VERÄNDERT JEDEN ASPEKT DER GESELL­SCHAFT.“

„DIE ALWAYS-ON-KULTUR IST
NICHT ALLGEMEIN FÖRDERLICH.“

Und so erforscht Raphael Gielgen heute für Vitra die Zukunft des Arbeitens und der Arbeitswelten. Dafür reist er rund 200 Tage im Jahr um die Welt, trifft Menschen, führt Gespräche, studiert Konzepte, besucht Unternehmen, beschäftigt sich mit kulturellen Strömungen und liest. Rund 700 bis 800 Artikel im Jahr und zahlreiche Bücher. „Lesen und zuhören, danach sortieren, denken und die Essenz aus allem zu Papier bringen.

Das ist meine eigentliche Arbeit“, sagte er in einem Vortrag bei Marte.Marte Architekten im vergangenen Sommer, zu dem reiter.design ihn eingeladen hatte. Als Zuhörer fragt man sich: Wann verdammt noch mal macht er das alles?

 

Rapha, wie ihn alle nennen, ist quirlig, hellwach und sehr eloquent. Aber er wirkt keinesfalls hektisch oder getrieben. „Ich brauche schon auch meine Ruhe“, erklärt er. Das ist beruhigend, finden wir. Diese Ruhe findet er bei sich zuhause, mit Blick auf die Pferdekoppel zur Linken und die Bücherwand mit rund 400 Werken zur Rechten. Oder auch im Vitra-Campus in Weil am Rhein. Bei seiner Arbeit sammelt er viele Informationen. Aber er transferiert sie nicht einfach in Wissen und markiert den Schlaumeier. Vielmehr ist er darum bemüht, diese Informationen, Gedanken, Ideen und Eindrücke zur Verfügung zu stellen, um im Gegenüber eigene Schlussfolgerungen, Gedanken oder Ideen auszulösen. „Es gibt kein absolutes Wissen“, sagt er in seinem Vortrag, „nur Ideen davon, wohin die Reise gehen kann. Die Route, ja selbst das Ziel, bestimmen wir selbst.“

 

Genau das ist auch die Absicht hinter dem Vitra Work Panorama. Jährlich entsteht es als Pool von Gedanken, Meinungen, Betrachtungen und Positionen, um anzuregen, etwas in Bewegung zu bringen und Baumaterial für die Entwicklung der Vitra-Welten zu geben. „Durch das Work Panorama ermöglichen wir allen Akteuren, Pioniere in ihrem jeweiligen Bereich zu werden“, heißt es in der Einleitung. Gielgen erklärt das so: „Die Möglichkeit, in offenen Strukturen zu arbeiten, hat sich in der Vergangenheit als Voraussetzung für die Entwicklung von wissensbasierten Unternehmen etabliert. Mit dem steigenden Einfluss von künstlicher Intelligenz auf Arbeitsroutinen und Entwurfsprozessen von Arbeitsumgebungen, scheinen nicht nur bestehende Arbeitsräume gänzlich überkommen zu sein – auch die Anpassungsfähigkeit bestehender Raumkonzepte an künftige Aufgaben und Kollektive scheint zu begrenzt zu sein. Wir sind, wie die meisten Architekten, Entwickler und Nutzer, auf der Suche nach einem Pioniergeist, der den Nährboden für Entdeckungen und Innovationen bilden kann. Die aktuellen Bedingungen eröffnen enorme Freiräume für genau diese Pioniere.“

Acht Felder beschreibt das Vitra Work Panorama, die Pioniere nicht aus den Augen verlieren sollten, auf ihrer Suche nach Neuem, Kommendem, Zukünftigem:

 

1. Human Core – Das Wohlbefinden des Menschen in seinem Arbeitsumfeld ist der Schlüssel für Kreativität, Leistungsbereitschaft und Unternehmenserfolg. Möbel, biophiles Design aber auch physische und psychische Gesundheit der Mitarbeiter sind essenziell.

 

2. Campus Community – Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Verortung lässt neue Campuskonzepte entstehen, an denen Begegnung, Austausch und gegenseitiges Lernen ermöglicht werden. Unternehmenswerte werden sicht- und spürbar.

 

3. Cluster Economy – Physische Begegnung und Beziehung sind der Schlüssel für Wachstum und Wohlstand. Disziplinen und Akteure vermischen sich, um neue Denk- und Lösungsansätze zu entwickeln.

 

4. Talent Transfer – Gründer- und Erfindergeist müssen vom Elitenprogramm zur Selbstverständlichkeit werden. Denken, lebenslanges Lernen und der Einsatz der eigenen Talente sind die Schlüssel für die technologisch bedingten Veränderungen in der Arbeitswelt.

 

5. Machine Minds – Geräte werden zu denkenden Maschinen. Das kognitive Büro braucht aber auch den empathischen Menschen.

 

6. Permanent Beta – Modifikation und Optimierung treiben uns an. Wissen wird immer wieder neu generiert. Technologie, Menschen und Räume sind in ständiger Bewegung.

 

7. Eco Friendly – Die Generation „Greta“ verlangt auch ein Umdenken in Sachen gebaute Architektur und Architektur der Arbeit.

 

8. Transversality – Die Architektur löst sich auf. Grenzen verschwimmen. Räume und Funktionen werden ständig neu interpretiert und Plätze werden dort geschaffen, wo sie gebraucht werden.

 

Wir fragen Raphael Gielgen, wie viel von diesen Gedanken und Inputs bei Vitra tatsächlich in die Entwicklung einfließt. Und seine Antwort ist überraschend: „Das ist nicht messbar und es ist auch nicht wichtig“, sagt er. Um zu ergänzen, dass es darum gehe, zu verstehen, was Unternehmen und Menschen heute bewegt und umtreibt. Es gehe darum, den Geist und die Haltung einzuatmen. Wach zu sein, zu hören und zu sehen. Und dann passiert der Rest ganz von selbst und wird auch Bestand haben. Zukunft ist ein langfristiges Projekt, das in der Gegenwart beginnt. Wer nur den Trends hinterher jagt, um mit ständig wechselnden Konzepten kurzfristige Erfolge zu erzielen, der wird sich langfristig eine blutige Nase holen. Wir verstehen das so, dass beim Trendscout im Gielgenschen Sinn der Fokus wohl mehr auf dem Scout liegt, dem Spurenleser. Er nimmt eine Fährte auf und verfolgt sie schön behutsam, geduldig und dennoch mit dem Seitenblick nach links und rechts. Er weiß nicht wann, aber er weiß ganz sicher, dass er erfolgreich sein wird, wenn er nur konsequent und aufmerksam dran bleibt.

 

So wie Raphael Gielgen und Vitra.